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Erinnerungskultur in Belarus

Malyi Trostenez

Am 25. September lernten wir die im Jahr 2003 gegründete Geschichtswerkstatt Minsk kennen. Hierbei handelt es sich um eine unabhängige belorussisch-deutsche Forschungs-, Bildungs-, und Gedenkstätte.

Pforte der ErinnerungDr. Aliaksandr Dalhouski, der Leiter der Geschichtswerkstatt, stellte uns deren Konzept und Arbeit vor, wozu beispielsweise die Organisation von Gesprächen zwischen Zeitzeugen und Schülern aus Belarus, Deutschland, Polen und Ukraine gehört. Die Geschichtswerkstatt steht auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Ghettos von Minsk, wovon nur noch einige wenige Überreste zu sehen sind, etwa Gedenksteine in einem anliegenden Park.
Dalhouski führte uns außerdem durch die in zwei Abschnitte geteilte Gedenkstätte Malyi Trostenez. Der erste Bauabschnitt rund um die „Pforte der Erinnerung“ wurde am 22. Juni 2015 feierlich vor internationalem Publikum eröffnet. An dieser Stelle richteten die Nationalsozialisten 1942 ein Lager ein, das den Verpflegungsbedarf der Truppen decken sollte. Juden und Zwangsarbeiter wurden hier für die landwirtschaftliche Produktion eingesetzt. Wenige hundert Meter entfernt, im Wald von Schaschkowka, wurden ungefähr 50.000 Menschen verbrannt. Kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee wurden in einer Scheune weitere 6.000 Häftlinge erschossen und angezündet. An beiden Stellen erinnert ein Obelisk an die Opfer.

Kontrovers bleibt die Aufnahme der jüdischen Opfer in das belorussische kollektive Gedächtnis. Unweit der „Pforte der Erinnerung“ gedenkt eine im Jahr 2019 eingeweihte Installation an die nach Minsk deportierten und getöteten Jüdinnen und Juden aus Österreich. In den belorussischen Installationen auf dem Gedenkkomplex werden jüdische Opfer jedoch nicht erwähnt. Eine Informationstafel nennt folgende Opfergruppen: „(…) member of anti-fascist underground struggle, the partisan movement, the Red Army prisoners of war, civilians deported from Europe.“
Am 29. Juni 2018 wurde der zweite Bauabschnitt im Wald von Blagowschtschina, etwa zehn Kilometer südöstlich von Minsk, durch den belorussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka eröffnet. Zu Gast waren die Bundespräsidenten aus Österreich und Deutschland.

wald_blagowschtschinaAugenzeugen der Verbrechen von Blagowschtschina berichteten im Jahr 1944 der sowjetischen Außerordentlichen Staatskommission: "Die Menschen wurden mit Zügen und Autos hierher gebracht. Ihnen wurden die Wertsachen abgenommen, Quittungen dafür gegeben. Bis zum letzten Moment sollte der Anschein der Umsiedlung an einen neuen Arbeitsort gewahrt werden",. Der Minsker Architekt Leonid Lewin entwarf an diesem Ort eine Gedenkstätte: „Der Weg des Todes“. Für den Wald von Blagowschtschina griff er das Paradox des Krieges auf. "Während in anderen Ländern Menschen Kaffee tranken und ins Kino gingen, erschossen Männer hier wehrlose Frauen, Kinder und Alte. Für diejenige, die den Himmel zum letzten Mal sahen, war unbegreiflich, warum sie sterben mussten", sagte Lewin in einem Interview mit DW.

Mehr als ein Jahr nach der Eröffnung fehlen allerdings noch immer Gelder für eine vollständige Umsetzung der Pläne Lewins. So konnten beispielswiese die Skulpturen, die den Weg säumen sollten noch nicht fertig gestellt werden. Laut Dalhouski hatte das öffentliche Interesse bereits in den Wochen nach der Eröffnung nachgelassen.

Zwei Orte des Terrors

Am Samstag führte uns Dr. Siarhei Novikau durch zwei Gedenkstätten, die auf unterschiedliche Art und Weise dem Terror gedenken: Chatyn und Kurapaty.

Chatyn

Das Dorf Chatyn wurde am 22. März 1943 als Vergeltungsmaßnahme für den Tod des Hauptmannes der Schutzpolizei Hans Woellke durch einen Überfall von Partisanen von den Deutschen vernichtetet. In deutschen Dokumenten ist von Gefechten mit Partisanen die Rede, 34 Banditen und zahlreiche Bewohner seien ums Leben gekommen, zum Teil auch in den Flammen. Erwähnt werden jedoch weder die eigenen Verluste, noch wie es zu dem Brand gekommen war. Dies deutet auf ein Massaker durch das SS-Sonderbataillon Dirlewanger und des Schutzmannschaftsbataillon 118 hin. Die Dorfbewohner wurden in eine Scheune getrieben, die angezündet wurde. Wer versuchte zu fliehen, wurde erschossen. 149 Menschen kamen ums Leben.

Die Gedenkstätte wurde am 5. Juli 1969 eingeweiht. Es handelt sich um einen beeindruckenden, ebenfalls von Lewin entworfenen Komplex aus Schornsteinen, an deren Spitzen Glocken angebracht sind, die alle dreißig Sekunden synchron angeschlagen werden. Ein aus schwarzem Marmor gefertigtes Dach soll die Scheune symbolisieren. Im Zentrum befindet sich eine Skulptur des überlebenden Dorfschmieds Iossif Kaminskij mit seinem toten Sohn in den Armen. Während der Bauphase entwickelte sich Chatyn zu einer Gedenkstätte für alle von den Besatzern verbrannten belorussischen Dörfer.

Chatyn fand Eingang in das kollektive Gedächtnis in Belarus für das Opfer der belorussischen Bevölkerung, sowie für den Widerstand der „Partisanenrepublik“. Kritische Fragen nach negativen Auswirkungen der Partisanenbewegung für die Dorfbewohner in Belarus werden in Chatyn nicht gestellt. Die zentrale Opfergruppe bildet die sowjetische, belorussische Bevölkerung, wobei jüdische Opfer, ähnlich wie in Malyi Trostenez, ausgeblendet werden.

Kurapaty

Einen ganz anderen Ort des Terrors lernten wir in der Gedenkstätte Kurapaty kennen: Hier wurden zwischen 1937 und 1941 zehntausende Menschen durch die sowjetische Geheimpolizei hingerichtet und verscharrt. Im Jahr 1939 fanden hier auch die Exekutionen polnischer Eliten statt, als das ehemals polnische Gebiet im Westen von Belarus annektiert wurde. Nachdem Minsk im Jahr 1944 von der Roten Armee befreit wurde, begannen Angehörige der sowjetischen Geheimpolizei mit der Beseitigung der Gräber. In den 1960er Jahren wurden eine Straße und eine Gaspipeline, die durch das Gräberfeld führt, gebaut.

In den 1970er Jahren begann eine bis heute andauernde Debatte um den Umgang mit der Geschichte dieses Ortes. Hatte die Regierung im Jahr 1989 noch eingelenkt und der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen zugestimmt, änderte sie bereits im Jahr 1991 ihren Kurs. Sie erklärte die deutsche Wehrmacht zu den Tätern, obwohl dies in Suchgrabungen zweifelsfrei widerlegt worden war. Im Jahr 2001 sollte die Straße, die durch das Gräberfeld führte, durch einen Präsidialerlass erweitert werden. Dies führte zu heftigen Protesten der Initiative zur Bewahrung von Kurapaty (Za utrawannje Kurapaty) und der Vereinigung „Jugend für Kurapaty“. Die Straße wurde trotzdem gebaut. Als Kompromiss wurde einer Unterführung zugestimmt, die einen Zugang zu den ehemaligen Massengräbern gewährleistete. Verschiedene Organisationen, Religionsgemeinschaften sowie Angehörige der Opfer bemühten sich seitdem um die Aufstellung von Kreuzen. Diese wurden jedoch immer wieder durch offizielle Behörden entfernt. Obwohl von Regierungsseite im April 2019 Kurapaty als nationaler Gedenkort anerkannt wurde, kommt es noch immer zu Entfernungsaktionen der Kreuze durch Behörden.

Fazit

Vor dem Hintergrund international-kooperativer Zusammenarbeit finden auch differenzierte und dialogische Ansätze Eingang in die belorussische Erinnerungskultur. So wurde die Eröffnung des Zweiten Bauabschnittes von Malyi Trostenez gemeinsam mit dem deutschen und dem österreichischen Bundespräsidenten begangen und die jüdischen Opfer der Nationalsozialisten fanden Eingang in die Rede des belorussischen Präsidenten: „Jews from Berlin, Bremen, Vienna, Dortmund, Prague, and other European cities were forced to walk the path of death here. Ashes of Belarusian civilians, underground resistance fighters and partisans, and Soviet POWs rest here, too.” Angesichts des ambivalenten Umgangs mit dem Erinnerungsort Kurapaty und dem nachlassenden Interesse an Malyi Trostenez nach der Eröffnungszeremonie stellt sich die Frage nach der Nachhaltigkeit dieser Ansätze.

Literatur und Internetquellen

(Text und Bilder: Maximilian Fixl)