Elitestudiengang Osteuropastudien
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Der 10. Jahrgang goes “GoEast”

07.05.2014

Exkursion nach Wiesbaden zum Festival des Mittel- und Osteuropäischen Films

10. – 13. April 2014

Filme aus Osteuropa dürfte der 10. Jahrgang des ESG Osteuropastudien eigentlich schon reichlich gesehen haben. Denn im Rahmen des diesjährigen Projektkurses zum Thema „Traumata im osteuropäischen Film nach 1989” sollen im Juli vier Filme im Münchner Kino Monopol gezeigt werden. Für die Auswahl wurden deshalb bereits wochenlang potenzielle Beiträge gesichtet, diskutiert, bewertet und ausgewählt. Und doch hatten die vielen Stunden des Filmsehens mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Vereint etwas die Filme aus dieser Region? Wie werden die spezifischen Probleme der Länder Osteuropas sowie ihre Geschichte durch das spezielle Medium Film aufgearbeitet?

Um uns diesen Fragen zu nähern sowie Anregungen und Erfahrung für unsere eigene Veranstaltung zu sammeln, machten wir uns auf zum 14. GoEast-Filmfestival in die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden.Foto Wiesbaden Exkursion

 

Bereits kurz nach Ankunft in der frisch renovierten Jugendherberge und einem gemeinsamen Abendessen besuchten die Studierenden die erste Filmvorführung. Der Großteil wählte das bulgarische Werk POSLEDNITE CHERNOMORSKI PIRATI/ DIE LETZTEN SCHWARZMEERPIRATENlast_black_sea_pirates. Darin verbringt eine Gruppe Aussteiger ihre Tage damit, Löcher im Wald um das Kap Karadere an der  Schwarzmeerküste zu sprengen. Der Grund: Die Suche nach einem Goldschatz. Dieser Traum gibt ihrem von Alkohol beherrschten Leben Inhalt. Doch ihr letzter Zufluchtsort ist in Gefahr, als der Bruder des Premierministers ein Luxus-Resort an „ihrem“ Strand errichten will. Ein teils heiterer, teils zum Nachdenken anregender Film, der sich während der gesamten Spieldauer zwischen einem modernem Märchen und nachgestellter Dokumentation hin- und herbewegt. Für uns bildete der Film, der die Suche nach Sinn und Identität in postsozialistischen Gesellschaften in den Mittelpunkt stellte, einen gelungen Auftakt.

Aktuell wurde es gleich danach mit UKRAINE_VOICESukraine voices, einer Zusammenstellung von acht kurzen Dokumentarfilmen, die erst im Dezember 2013  im Rahmen einer Masterclass in Kiew entstanden waren. Die Filmschaffenden wurden von den Ereignissen in ihrem Land eingeholt und so sieht man, wie bestimmte Themen auf einmal politisch bedeutsam werden: Ein junger Jakute lebt ohne Pass in verschiedenen Städten der ehemaligen Sowjetunion. Einige Monate vor der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation erhält er dort erstmals Dokumente – ukrainische. Ein weiteres Werk zeigt einen orthodoxen Priester der sich für den Naturschutz einsetzt und zum Maidan-Aktivisten wird. Der eindrucksvollste Kurzfilm jedoch erzählt mittels durch Kugelschreiber gezeichnete Szenen den jahrelangen Kampf für Gerechtigkeit eines durch Polizeigewalt querschnittsgelähmten Mannes. Erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekommt er eine staatliche Entschädigung zugesprochen – der Beitrag zeigt damit auch, was die EU für ukrainische Bürger attraktiv macht.

Nach dem Film erklärte Produzent Dmytro Tiazhlov in einem fast einstündigen Filmgespräch, wie der Film entstand. Durch Publikumsfragen rückte dann aber doch bald die aktuelle Situation vor allem im Osten der Ukraine ins Zentrum des Gesprächs.

Am nächsten Tag nutzten wir das wunderschöne Wetter um die ehemalige Residenzstadt Wiesbaden zu erkunden, bevor es am Nachmittag mit der Dokumentation ISKUSHENIE / VERSUCHUNG des belarussischen Dissidenten Viktar Dashuk weiterging. Im vorangehenden Filmgespräch erläuterte der Journalist und Filmemacher, dass der Film vor allem von ihm selbst handelt. Und tatsächlich sah man im gut einstündigen Werk vor allem Dashuk selbst: Auf dem Krankenbett, am Strand, beim Tanzen und im Beisammensein mit seiner Familie. Dazwischen wurden jedoch  teilweise verstörende Bildern gezeigt, wie der Bombenanschlag  auf die Minsker U-Bahn, eine Gruppe Satanisten, die einen Hund kreuzigt und nicht zuletzt die Schlägertrupps des belarussischen „Diktators“ Alexander Lukaschenko.

little_brotherSchwindelig von der Wucht dieser Bilder zogen es einige von uns vor, eine Pause einzulegen. Andere machten weiter mit dem kasachischen Beitrag BAUYR / KLEINER BRUDER des Regisseurs Seric Aprymov. Auch hier ging es ums Überleben in der postsozialistischen Gesellschaft. Der kleine Yerkin muss in seinem Dorf in der kasachischen Provinz ganz allein zurechtkommen: Die Mutter tot, der Vater verschwunden, der ältere Bruder in der Stadt. Wie Aprymov in Gespräch erklärte, wollte er zeigen, wie Kinder in einer hart gewordenen Gesellschaft schnell erwachsen werden müssen.

Genau wie Kleiner Bruder gewann auch die georgische Tragikkomödie SHEMTKHVEVITI PAEMNEBI / BLIND DATES einen der begehrten Filmpreise des Festivals. Zurecht, zeichnet doch Regisseur Lewan Koguaschwili feinfühlig die (Alltags)-Probleme seiner Mitmenschen bei der Suche nach Liebe und Glück nach. Im Zentrum der Geschehnisse steht der vierzigjährige Sandro – Lehrer, wohnhaft bei den Eltern und glücklos bei den Frauen.

marxism_todayUm das Ende des Sozialismus ging es bei den zeitgleich laufenden Kurzfilmen MARXISMUS HEUTE (Deutschland 2010) und JUGOSLAWIEN, WIE IDEOLOGIE UNSEREN KOLLEKTIVEN KÖRPER FORMTE (Serbien 2013) . Erstereryugoslavia erzählt, wie es drei Dozentinnen des Faches Marxismus-Leninismus nach dem Ende der DDR erging. Der zweite Film zeigt Aufnahmen von Massenveranstaltungen im sozialistischen Jugoslawien. Von Einsätzen junger Pioniere zu Massentänzen anlässlich des Tages der Jugend über Studentendemonstrationen im Jahr 1968 bis zur Ansprache  Miloševićs auf dem kosovarischen Amselfeld 1989 und den friedlichen Massenprotesten, die im Jahr 2000 zu seinem Sturz führten. Beide Filme behandeln die gleiche Frage: Wie hat uns der Sozialismus geformt? Und was bleibt davon?

Am für uns letzten Festivaltag ging es mit VALEA PLÂNGERII / TAL DER TRÄNEN noch einmal um ein Kapitel der Geschichte, das bislang wenig dokumentiert ist: Drei rumänische Dokumentarfilmer thematisierten in diesem Werk die Vertreibung der rumänischen Roma nach Transnistrien während des Zweiten Weltkrieges. Durch Hunger, Kälte und willkürliche Gewalt kamen dabei die Hälfte der 25.000 Vertriebenen ums Leben. Da es von den Ereignissen aus der Zeit so gut wie keine Bilder gibt, behelfen sich die Filmemacher mit aktuellen Aufnahmen der betreffenden Orte, denen man die Schrecken jener Zeit nicht mehr ansieht. Eindringlich wird die Vergangenheit mittels Interviews mit überlebenden Roma und ukrainischen und russischen Bauern, die die Geschehnisse damals erlebt hatten, erfahrbar gemacht.

Das Thema Gewalt an Roma behandelte auch der Film URTEIL IN UNGARN prozess_ungarn, der fast ausschließlich aus Aufnahmen des Prozesses gegen vier Rechtsextremisten besteht, denen mehrere Morde an Roma vorgeworfen wurden. Wir hätten nicht erwartet, dass bloße Bilder einer solchen Gerichtsverhandlung eine dermaßen drastische Wirkung entfalten können. Doch  Regisseurin Eszter Hajdú gelingt es auf beeindruckende Weise, in ihrem „Kammerspiel“ viel über die Ressentiments gegenüber Roma im heutigen Ungarn zu erzählen.

Zwei Tage hatten wir uns nun mit Filmen beschäftigt, die v.a. das Leben in postsozialistischen Gesellschaften bzw. den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und historische Ereignisse ins Zentrum gerückt haben. Am Abend des letzten Tages durften wir uns dann mit der sowjetischen Komödie von 1975 PERVAYA LASTOCHKA / WIE DER FUSSBALL NACH GEORGIEN KAM wie der fußball nach georgien kam etwas entspannen. Jedoch nur kurz. Denn zum Abschluss lud die Festivalleitung alle Interessierten zu einem Tischfußballturnier ein. Obwohl vier Teams des Studiengangs, unterstützt durch Professor Martin Aust, vollen Einsatz zeigten und sich natürlich gegenseitig zu Spitzenleistungen anspornten, konnten sie letztendlich nichts gegen die Teams der Festivalorganisation und zweier ungarischer Regisseurinnen ausrichten – die Heimfahrt erfolgte demzufolge ohne einen der zahlreichen Preise.

Wehmütig ob der Filme, die für den Rest des Festivals auf dem Programm standen und wir nicht sehen konnten, machten wir uns am frühen Sonntag morgen voller Eindrücke und Ideen zurück auf den Weg nach Regensburg beziehungsweise nach München.

 

Text: Folke Eikmeier

Foto Bahnhof Wiesbaden: Folke Eikmeier

Fotos Filme mit freundlicher Genehmigung des Go East-Festivals